Der Einzige, der sitzen durfte, war der Chef. Der saß auf einem Hocker am Tisch. Es war ja Pflicht, in guter, normaler Aufmachung im Büro zu erscheinen. Die alten Herren trugen größtenteils Jacketts mit Schlips und Kragen. Von wegen locker und leger. Das war verpönt. Um ihre Anzüge zu schonen, hatten die alten Herren Gamaschen über ihre Ärmel gezogen. Die Jacken sollten doch lange halten. Alle halbe Jahre einen neuen Anzug wie heute, das gab es nicht. Zur Konfirmation gab es einen Anzug und den sollte man am besten bis zur Beerdigung tragen.
Zu Beginn meiner Lehre kamen dann die Schreibmaschinen auf. In der Schule habe ich schon das Zehn-Finger-System gelernt. Dafür bekamen wir Übungsstunden in der Mittelschule. Auch Stenografieren lernten wir dort. Aber Briefe, Postkarten, Rechnungen und Lieferscheine wurden noch größtenteils per Hand geschrieben.
1 Glas Bier für 10 Pfennige
Das ganze Leben erschien mir sowieso viel ruhiger und gelassener. Heute herrscht mehr Hektik. Es muss alles Zack-Zack gehen. Bei uns war es anders: Wir fingen morgens so gegen 8.00 Uhr an und mittags um 12.00 Uhr wurde abgeschlossen. Dann gingen alle nach Hause zum Mittagessen. Um 14.00 Uhr erschienen wir wieder auf der Arbeit. Da wurde dann gearbeitet, bis alles fertig war. Von wegen 16.00 Uhr Feierabend, das gab es nicht. Die Woche endete auch nicht am Freitag, sondern erst Samstags abends. Vor 19.00 Uhr war ich selten zu Hause. Wenn wir tagsüber was versauten oder nicht ordentlich gemacht hatten, sagte der Chef, wenn alle Feierabend hatten und nach Hause gingen: „So, jetzt machen Sie das noch mal, aber ordentlich.“ Das war die beste Lehre für uns, dass wir uns anstrengten bei der Arbeit und alles vernünftig machten.
Die Lebensmittel wurden damals noch alle lose gehandelt. Es gab nicht wie heute in jedem Laden abgepackte Gewürze usw., wir hatten im Betrieb so zehn bis zwölf Bottiche mit Gewürzen stehen. Während der Arbeitszeit mussten wir dann abfüllen. Der eine Kunde wünschte ¼ Pfund Pfeffer, der andere ½ Pfund. Der Pfeffer war lose in großen 100-Pfund-Säcken verpackt. Bei Zucker war es sogar 200-Pfund-Säcke.
Unser Angebot war aber bei weitem nicht so reichhaltig, wie es heute im allgemeinen ist. Irgendwelche Fertiggerichte oder so etwas gab es ja alles nicht. Wenn die Frauen im Kindbett lagen, nahmen die ein halbes Pfund Prumen, also Trockenpflaumen, mit aus dem Laden.
Bei Zucker usw. war es genauso. Zucker wurde von den Zuckerraffinerien geliefert und durch die Schüttorfer Spediteure größtenteils für uns abgeholt. Das wurde dann auch mit einer sogenannten Tratte beglichen. Aber die Einzelhändler bezahlten uns alles in bar.
Erst bezahlen – dann bestellen
Ich ging nach Bentheim zur Berufsschule. Dort wurden wir vor allem von Leuten aus der Praxis unterrichtet. So brachte uns ein Buchhalter aus einem Industrieunternehmen, dessen Namen ich leider vergessen habe, das kaufmännische Grundwissen bei, so Briefe schreiben und Buchhaltung. Auch die Prüfung war freiwillig. Wer sich prüfen lassen wollte, konnte das machen. Eine verpflichtende Abschlussprüfung gab es erst nach dem Krieg.
Ich habe meine Prüfung damals freiwillig gemacht. In Osnabrück zusammen mit Gerd Wolbers, einem Schüttorfer Jungen und Schulkameraden von mir. Der ist im Krieg gefallen. Aber die meisten machten ohne Prüfung weiter und wurden als Angestellte in den Betrieb übernommen. Ich hatte gerade meine Lehre zu Ende gemacht und da kam meine Einberufung.
Die Prüfung war freiwillig
Um mal eine Vorstellung zu haben: Wir bekamen vor den 2. Weltkrieg waggonweise Zigarren geliefert. Das war ein riesiger Artikel. Ähnliche Umsätze machten wir auch mit Süßweinen. Damals trank die ganze Grafschaft nur Samos, Tarragona, Muskateller usw. Da kamen aus Rotterdam große Halbfässer mit der Bahn oder ganze Waggons mit Süßweinen bei uns an. Von uns aus gingen die Waren direkt an den Einzelhändler.
Unsere erste zwei Lkws waren sogenannte Krupps. Das waren schier unverwüstliche Autos. Da wurde der Motor noch mit einer Handkurbel gestartet. Unser Lieferungen gingen in die Grafschaft, das Emsland und das nördliche Münsterland. Wir fuhren nach Wettringen, Bilk, Burgsteinfurt, Emsbüren, Salzbergen und bis hinter Lingen. Auch in die kleinen Bauernschaften. Tabakwaren, Zigarren und Spirituosen lieferten wir sogar bis ins Ruhrgebiet. Wir hatten auch schon früh Pkw für unsere Reisenden.
Ich vergesse nie, als mein ältester Sohn geboren wurde, musste ich meine Frau morgens in aller Herrgottsfrühe mit dem Auto nach Rheine ins Matthias-Krankenhaus bringen. Die Schwester an der Pforte fragte mich, wie ich denn so früh von Schüttorf nach Rheine gekommen wäre. Mit dem Auto, hatte ich ihr geantwortet. Da war sie ganz erstaunt. Ich habe sie dann darüber aufgeklärt, dass es ein Firmenwagen war. Es ging uns damals noch nicht so gut, dass wir uns privat ein Auto hätten leisten können. Ganz früher haben die Reisenden die Touren nach Bentheim und Gildehaus noch mit dem Fahrrad gemacht.
Während des 2. Weltkrieges wurden Lebensmittel grundsätzlich über Bezugscheine geliefert. Das heißt, wenn ein Einzelhändler jetzt 50 Pfund Zucker bestellen wollte, musste der uns einen amtlichen Bezugsschein vorlegen. Die Bezugscheine sammelten wir und reichten sie bei der Industrie ein, um neue Ware zu bekommen. Das war natürlich alles begrenzt, es gab nur bestimmte Artikel. Und freien Spielraum hatten wir nicht. Wir mussten uns genau an dieses Verfahren „Bezugschein gegen Ware“ halten. Auch der Verbraucher hatten so eine Art Bezugscheine. Die musste er im Laden abgeben, wenn er was kaufen wollte.
Wer keinen Garten hatte, war arm dran
Ich bin damals mit dem Herrn Chiewinski, der war damals Fahrer bei Breukers, nach Bremen zu den Kornmühlen gefahren und wir haben dort Spaghetti und so organisiert. Oder wir fuhren zu Storck nach Werther und haben zehn Sack Zucker gebracht. Für zehn Sack Zucker gab es einen Lastwagen voll Kamellen. Diese Tauschgeschäfte waren damals üblich, denn die Reichsmark war kaum was wert.
Wir waren immer unterwegs, um zu organisieren oder zu tauschen. Das Problem war nur, um 22.00 Uhr abends war ja Sperrstunde. Dann durften wir nicht mehr auf der Straße sein. Da legten wir uns hinten auf unserem Lkw und haben bis zum anderen Morgen gewartet. Und der Lkw von Breukers, mit dem wir auf Tour waren, hatte seine besten Tage schon längst hinter sich. Der fuhr auch nicht mit Diesel, sondern mit Holzkohle.
Meistens haben wir unser Geld bekommen
Aber ich muss wohl sagen: Toi, toi, toi, meistens haben wir unser Geld dann noch bekommen. Aber bei einzelnen Kunden haben wir auch dicke Verluste gemacht. Das konnte gar nicht ausbleiben. Das wäre ein Wunder gewesen, wenn es nicht so gewesen wäre. Wir hatten auch immer ein Problem mit Diebstählen. Zwar nicht in dem Maße, wie es heute ist. Aber es wurde schon geklaut. Von Kunden und auch von Mitarbeitern. Zuletzt hatten in unseren Märkten eine Schwundquote von ungefähr 2 %. Das war ganz schön viel.
Als ich das nächste Mal zu ihm kam, ging er in den Laden und holte mit einem Schepper etwas von dem Reis, den ich ihn verkauft hatte. „Herr Schrader, Sie sind doch Fachmann. Was ist das für ein Reis, den Sie mir da geliefert haben?“ Er hatte mich erwischt. War mir das unangenehm. Betrügen konnte man die Leute früher nicht, die hatten alle Ahnung. Auch der Bäcker wusste bei den Rosinen genau Bescheid, was er da kaufte.
Ich kann aber von mir behaupten, dass ich ein ehrlicher Kaufmann war. Mein oberstes Prinzip hieß, nie den Kunden zu übervorteilen. Ich hatte ja auch Kunden gehabt, die mal krank oder aus anderen Gründen selbst nicht in der Lage waren, eine Order zu erstellen. Da haben mir meine Kunden voll vertraut. Ich ging in ihr Lager rein und habe mich umgeschaut. Dann habe ich den Auftrag gemacht, aber nie mehr aufgeschrieben, als sie auch wirklich brauchten. Wenn ich ihnen den ganzen Laden vollgepackt hätte, hätten sie mir das sicherlich übelgenommen. Und ich wollte sie ja doch als Kunden behalten.
Schummeln mit spanischem Reis
Man gehörte zur Familie
Wir hatten später so Orderbücher, da waren die ganzen Artikel aufgeführt. Der Kunde konnte da eintragen, was er haben wollte, und der Vertreter holte nur noch den Auftrag ab, besprach die Konditionen. Dann lief das automatisch. Alles war komplett durchorganisiert. Das Lager war auf EDV umgestellt. Der Sammler, der die Kommissionen zusammenstellte, der wusste gar nicht, was er einstellte. Der wusste nur, 1727 muss ich haben. Das stand dann oben am Regal groß dran, der nahm er den Karton da raus, das konnte ein Karton Milch aber auch ein Karton Rama sein. Alles war durchnummeriert und wurde über die EDV abgewickelt.
Alles war komplett durchorganisiert
Mit den Rechenautomaten begann der Fortschritt
Die normalen Groß- oder Einzelhändler hatte keine Chancen mehr am Markt. Heute gibt es ja kaum noch Einzelhändler im Lebensmittelbereich, sondern größtenteils nur noch Verbrauchermärkte und große Filial-Ketten wie K & K oder Edeka. Wir haben damals mit vier Großhändlern versucht, das gleiche auf die Beine zu stellen. Wir haben uns im norddeutschen und westdeutschen Raum auch Verbrauchermärkte angeschafft, mit dem Namen Famila – also Familienkauf. 1988 haben wir an Spar in Hamburg verkauft, die damals weiter fusionierten. Zwischenzeitlich sind die aber selber von der Edeka geschluckt worden.
Mit den Kollegen Famila gegründet
Nur noch die Menge zählte
Ich weiß noch, wie es damals mit der Tiernahrung anfing. Als erster kam Chappi zu uns und sagte: Wenn Sie 20 Karton abnehmen, dann bekommen Sie 5 oder 10 % Rabatt. Dann steigerte sich das. Dann kamen fünf Paletten, dann zehn Paletten und dann nicht mehr ein Lastzug, sondern gleich zwei bis drei Lastzüge. Das mit der Tiernahrung ist ja heute ein riesiger Markt. Ein normaler Händler hat da heute keine Chance mehr.
Zum Glück hatten wir diese Entwicklung rechtzeitig kommen sehen und uns mit den Kollegen zusammengetan, um eine gewisse Größe zu erreichen, mit der wir damals am Markt überhaupt eine Chance hatten.
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